Kolumnen
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Eine Kolumne von Bastian Flimm
16. März 2022
Ein Fluss, ein Schriftsteller und was trotz Krieg unzerstörbar bleibt
Im Jahr 1831 veröffentlichte der Schriftsteller Nikolai Gogol die Sammlung von Erzählungen „Abende auf dem Weiler bei Dikanka“. Darin erhält man eine lebendige Beschreibung des Flusses Dnepr, der in der Nähe von Moskau das Licht der Welt erblickt, sich südwärts durch Belarus schlängelt, die Ukraine in zwei Hälften teilt, bevor er schließlich ins schwarze Meer mündet. Gogol schreibt: „Du blickst hin und weißt es kaum, ob sich sein hehrer breiter Rücken regt, ob nicht. Ganz aus Glas gegossen scheint die Flut und sein blauer Spiegelweg windet sich, breit ohne Maßen, lang ohn’ Ende, in verschlungenen Bahnen durch die grüne Welt.“ Und über eine Sommernacht am Fluss befindet er: „Die Sterne aber glühen und leuchten über die Welt, und spiegeln sich alle im Dnjepr wieder. Der Dnjepr birgt sie alle in seinem dunklen Schoße, und kein einziger kann ihm entrinnen — es sei denn, daß er am Himmel erlischt.“
Hätte ein solch mächtiger Fluss eine Staatsangehörigkeit, sie wäre russisch. Im Zweifel gilt das Geburtsortsprinzip, welches besagt, dass ein Staat seine Staatsbürgerschaft an jene Kinder verleiht, die im Staatsgebiet geboren sind. Seit wenigen Wochen stellt die russische Staatsangehörigkeit in Westeuropa eine erhebliche Belastung dar, auch wenn sich die betroffene Person gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine stellt. Sogar der ukrainische Filmemacher Sergei Loznitsa kritisierte zuletzt die European Film Academy, die jährlich den Europäischen Filmpreis verleiht. Er sprach sich gegen den pauschalen Boykott aller russischen Filme aus, den die European Film Academy umgesetzt hat. Loznitsa beklagte, dass viele russische Filmemacher, die gegen den Krieg Stellung bezogen hätten, nun selber zu Opfern geworden seien: „Was vor unseren Augen geschieht, ist schrecklich, aber ich bitte Euch, nicht in Wahnsinn zu verfallen. Wir dürfen Menschen nicht anhand ihres Ausweises beurteilen – wir können sie anhand ihrer Taten beurteilen.“
Breit ohne Maßen und lang ohn’ Ende sind solche Ausgrenzungen, die täglich in den Medien zu erfahren sind und widerspruchslos hingenommen werden. Ganz aus Glas gegossen ist der Spiegelweg, auf dem alle Russen, ob Sportler oder Künstler, ob mit oder ohne Bekenntnis gegen Putin, verteufelt werden. Es bleibt abzuwarten, ob der hehre, breite Rücken der Zivilgesellschaft sich regt, denn vielfältige Meinungsäußerungen sind die glänzenden Sterne am Firmament einer freiheitlichen Demokratie. Sicher ist: es darf noch Tschaikowski gespielt und Tolstoi gelesen werden. Und selbstverständlich auch Gogol, der wie ein Spiegelbild des von ihm geliebten Flusses anmutet. Während der Dnepr in den Süden floss, um Ruhm und Fülle zu erlangen, ging der in der Nähe von Kiew geborene Gogol in nördliche Richtung nach St. Petersburg und wurde dort zum anerkannten Schriftsteller. Es sind Gemeinsamkeiten, die Freundschaften entstehen lassen. Und die Verbindung zwischen Gogol und seinem Fluss bleibt unzerstörbar, denn noch sind Flüsse nicht gezwungen, sich zu irgendeiner Staatsangehörigkeit zu bekennen.
Lieber Felix,
Flüsse haben keine Staatsangehörigkeit. In ihnen spiegeln sich
die Sterne. Gogol bringt das in seinem Text zum Ausdruck.
Du legst mit Deiner Betrachtung den Finger in die Wunde der Ausgrenzung.
Diese Wunde wuchert in immer neuen Metastasen. Was können wir dem
entgegen setzen? Unsere Zuversicht – dieses Gefühl der Lebendigkeit, das uns
berührt, wenn wir dem LIcht der Sterne folgen, die im Lauf des Flusses ihren
tröstenden Spiegel finden. Wieder eine bemerkenswerte Kolumne!
Wieder schön was du machst. Klar in Ermahnung. Wieder tiefsinnig und mit hoffnungsvollen Element. Das ist wichtig, Hoffnung zu verbreiten.Lbg dMichael
Um mich nach der aufwühlenden Ansprache von Selensky im deutschen Bundestag zu beruhigen, musste ich Deine Kolumne nochmal lesen. Sie ist gut. Es liest sich wunderbar flüssig, so wie der Dnepr ruhig dahinfließt, nur beim Lautlesen holpert bei mir die Melodie bei „ganz aus Glas gegossen“…. könnte ein Füllwort das nicht ändern?
H.A.
CM
Es gibt keinen Fluß mit nur einem Ufer. Die Welt wird am westlichen Wesen nicht genesen.
ja richtig, gut beobachtet und kommentiert dieser nicht nur abstruse, sondern gefährliche Russenhass, der sich gerade entwickelt. Gut, dass Du das so poetisch und klar benennst. (Auch wenn es leider wohl häufig so ist, dass Kriege Feindbilder und Hass erzeugen und eine Differenzierung im blinden Hass untergeht), Uta