B. Flimm
Das Streiflicht
Eine Kolumne von Bastian Flimm
Das Streiflicht
Auf den letzten Metern fiel dem Autor dieser Zeilen ein, dass er an diesem Tage in der Pflicht war, die hier betitelte Kolumne mit Geistreichem zu füllen. „Ich weiß gar nicht was ich noch schreiben kann. Goethe, da Vinci … alles schon tausendmal gehabt“, grummelte ich über den Frühstückstisch. „Was ist mit dem Buch der Lateinzitate? Da sind noch ein paar Seiten unbefleckt“, war die Antwort meiner Frau.
Bereits zwei Stunden später checkte ich am Münchener Hauptbahnhof in den Zug nach Berlin ein. Mit dem Laptop aufgeklappt, einen frischen Kaffee und dem Zitate-Buch ging es an die Arbeit. Da fläzte sich ein langhaariger Mittvierziger auf den Platz gegenüber: „Moin!“ Von mir gab es nur ein „Hmm“ zur Antwort. „Darf ich Ihnen etwas Lyrik vorlesen?“ Oh je, nun war die Frage, was ich tun sollte. Vor mir saß im besten Fall ein streunender Freigeist, im schlimmsten Fall ein Borderline-Buddha mit ausgefranstem Baumfällerhemd. „Also, gut, aber ein episches Gedicht ist es nicht?“ Er lächelte, zog ein Büchlein hervor und hielt es nicht für nötig meine Frage zu beantworten. Er begann:
„München
Das Flugzeug das ich bin
es flieget hilflos vor sich hin
es drehet Kreise schnell und lahm
und findet nie die Landebahn“
Mit einer Gegenfrage konterte ich: „Warum ausgerechnet München als Hintergrund dieser persönlichen Tragödie?“ Sein Grinsen zog eine Linie von Ohr zu Ohr. „Oh, das ist nichts Persönliches. So wie die Dinge stehen, werden der Flughafen sowie die Stadt München in ca. drei Jahren nicht mehr hier sein.“ Es musste doch ein Klima-Aktivist sein, nicht von der Sorte Fridays for Future, aber gewiss Extinction Rebellion. Kurzum entschied ich, das Gespräch nicht fortzusetzen, denn eine Grundsatzdiskussion wollte ich vermeiden. In Berlin angekommen, rief er mir noch hinterher: „Projekt Münchenhausen.“
Als ich abends wieder im Zug saß, dachte ich nochmals an den Weltenbummler und tippte ‚Projekt Münchenhausen‘ in die Suchmaschine. Es gab tatsächlich ein Volksbegehren, welches das Ziel hatte, die Stadt München auf alle Bundesländer zu verteilen. Dies wurde damit begründet, dass der Standort als Stausee für Schmelzwasser der Gletscher bestens geeignet sei; außerdem müsse man die in München ansässigen Schlüsseltechnologien gerecht auf die Republik verteilen. Als ich die Zahl der Unterzeichner sah, beruhigte sich das Gemüt: 139 Verwirrte. Ich las weiter und stolperte über dies: ein gewisser Leopardo G hatte sich Gedanken gemacht, wie die Süddeutsche nach Umzug neu benannt werden könnte. Er schlug tatsächlich ‚Bundesdeutsche Zeitung‘ vor. Wie geschmacklos.
Wieder zu Hause, als ich die Anekdote weißweinschlürfend erzählte, fragte meine Frau: „Was hätte Leonardo da Vinci gemacht, wenn jemand gedroht hätte, Florenz über Italien zu verteilen?“ Nun, das war Gott-sei-Dank eine Frage ganz nach meinem Geschmack! Und die Frage wäre ohne meine Zugbekanntschaft nie zustande gekommen. Wie die Dinge so stehen, bietet wohl jede Begegnung, sei sie noch so störend, noch so gänzlich unnötig, ein kleines flackerndes Licht am Ende des Tunnels. Et lux in tenebris lucet, und Licht leuchtet in der Dunkelheit. Oder nennen wir es einfach das Streiflicht.
29. August 2020, Bastian Flimm