J. Papadam
Ich wüsste gerne heute, was ich gestern gelesen habe
Aus der Reihe >Ich wüsste gerne heute, was ich gestern gelesen habe<
Diese Woche ist viel von harten Dingen die Rede, zum Ausgleich ein paar sanfte Gedankenspiele
15. Dezember 2020
Das Wort „sanft“ bekomme ich öfter im Sommer als im Winter zu hören. Andersherum begegnet mir das Wort „hart“ winters öfter als sommers. Das könnte daran liegen, dass die Sprache den Jahreszeiten folgt, denn nur ein harter Winter lässt die Erde zusammenschrumpfen, und nur wer sich Kältereizen aussetzt, scheint für den Winter ausreichend abgehärtet zu sein. Die Verwendung des Wortes „hart“ erreicht diese Woche seinen Höhepunkt, als die Nachrichten eines harten Lockdowns wie Kieselsteine auf die Schädeldecke schlagen.
Wenn von harten Maßnahmen die Rede ist, wird oft vergessen, dass es immer noch Schlupflöcher gibt. So steht es mir frei beim Oberbürgermeister eine Härtefallregelung zu beantragen. „Sehr geehrter Herr OB, wenn ich nicht mindestens zweimal pro Woche in einem Café meiner Wahl ein Stück Kuchen esse und vier Kaffee trinke, beginne ich an harter Haut zu leiden“. Dies ist ein seltenes rheumatisches Leiden, bei dem sich die Haut entzündet und verhärtet, auch Sklerodermie genannt. Aber wen interessieren schon die Wehwehchen eines zu Sanftmut neigenden Kolumnisten? Es werden eher die harten Helden der Geschichte zum Vorbild heraufbeschworen, wie Harald der Harte, ein norwegischer König, der von 1015 bis 1066 lebte. Er soll ein rücksichtsloser und vertragsbrüchiger Zeitgenosse gewesen sein, der eine wesentliche Rolle im Kampf um England spielte. Er griff England über die Orkney Inseln an, wurde bei der Schlacht von Stamford Bridge besiegt und im Schlachtverlauf getötet. Nur ein kümmerlicher Rest seiner Truppen durfte die Heimreise antreten. Die Schlacht von Stamford Bridge fand in der Nähe von York statt und hat übrigens nichts mit dem Fußballstadion „Stamford Bridge“ zu tun, welches in London liegt und vom FC Chelsea bespielt wird. Der Erfolg des in der Premiere League spielenden Vereins hält sich in Grenzen: gerade mal auf Platz 5 kommen die im Volksmund genannten „The blues“. Damit liegen sie knapp hinter dem FC Southampton.
In Southampton legte am 10. April 1912 die Titanic ab. Bekanntermaßen stellte sich ein paar Tage später heraus, dass im Direktvergleich ein Eisberg härter war als die Titanic und somit verloren 1.514 der 2.200 Passagiere ihr Leben. Erwähnenswert ist, dass der Weg von Southampton nach Windsor Forest gerade mal eine Stunde Autofahrt beträgt. Dort in dem Wald soll laut englischer Folklore Herne der Jäger sein Unwesen getrieben haben. Er wird oft mit einem weißen Hirsch – the white hart – in Verbindung gebracht, oder soll sich gar in einen solchen verwandelt haben. Das deutsche Wort „Hirsch“ lässt sich, nebenbei bemerkt, auf das mittelalterliche englische Wort „hart“ zurückverfolgen. In der keltischen Mythologie spielt der weiße Hirsch eine besondere Rolle, denn er verkündet Botschaften aus dem Jenseits. Ob Shakespeare diese Botschaften hörte ist ungewiss, aber in seinem Stück „Die lustigen Weiber von Windsor“ hat er die Figur Herne der Jäger literarisch verarbeitet und lässt ihn in der Winternacht um eine Eiche springen, mit zerlumpten Hörnern schüttelt er eine Kette und erschreckt das Vieh.
Sollte ich eine Absage auf den Härtefallantrag erhalten, kann ich mich immer noch in einen weißen Hirsch verwandeln, der der Härte des Winters gewachsen sein dürfte und im verschneiten Hinterland – weiß auf weiß – spurlos verschwindet, um Gleichgesinnte zu finden. Die Herde der „white harts“ wird mich erfreut als neues Mitglied begrüßen. Am liebsten trinken wir Kaffee aus weißen Tassen und essen mit weißer Schokolade überzogenen Kuchen. Wenn wir unter uns sind, säuseln wir uns sanfte Geschichten ins Ohr, aber wenn uns jemand angreift, schlagen wir den Gegner mit unseren harten Geweihen in die Flucht.
Da hast Du Dich am Hartsein und Hartwerden gut abgearbeitet.
Wolfgang
sehr schöne Abfolge von historischen Fakten, eingebettet in die gegenwärtige Situation aufwallender Kuriositäten. Ich wünsche dir guten Erfolg beim Oberbürgermeister. Er wird ein weiches Herz haben.
In diesem Sinne
ein fröhliches Weihnachtsfest bei der Hirschkeule
Claus M.