B. Flimm
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Eine Kolumne von Bastian Flimm
21. Mai 2021
Arion von Lesbos, Albrecht Dürer und ABBA sind miteinander verwandt, im Hintergrund laufen Vorbereitungen für einen Sängerwettbewerb
Ein Mythos der griechischen Antike rankt sich um den Sänger und Dichter Arion von Lesbos, der im 7. Jahrhundert v. Chr. lebte. Er soll nach Sizilien gereist sein, um dort an einem Sängerwettbewerb teil zu nehmen. Nachdem er als umjubelter Sieger mit Geld überschüttet wurde, machte er sich auf den Heimweg. Seine Schätze weckten den Neid der Schiffsleute, die ihn vor die Wahl stellten: er durfte über Bord springen oder sich ermorden lassen. Aber zunächst wünschte er sich, ein letztes Lied singen zu dürfen, was sie ihm gewährten. Als er seinen Gesang anstimmte, erschien eine Gruppe Delphine vor dem Schiff. Arion sprang in die Fluten und ließ sich von einem der Delphine in Sicherheit bringen.
Während eine Erzählung nur eine Geschichte erzählt, liefert ein Mythos übergreifende Erklärungen, zeitlose Wahrheiten oder religiöse Orientierung. Den berühmten Kupferstich von Albrecht Dürer „Melencolia 1“ könnte man als Mythos bezeichnen. Zu sehen ist eine kräftige Frauengestalt mit großen Flügeln, die auf einer steinernen Stufe sitzt und gedankenverloren in die Ferne blickt. Dort am Horizont, über dem Meer, schwebt ein rätselhaftes Tier, das den Schriftzug „Melencolia 1“ trägt. Geschaffen wurde das Kunstwerk im Jahr 1514, in einer Zeit, in der die Melancholie als Laster verurteilt wurde. Doch der Gesichtsausdruck der Frau ist weder verzweifelt noch beunruhigt. Ganz im Gegenteil strahlt sie Würde aus und scheint sich ihrer Grenzerfahrung zwischen Erkenntnishelle und -dunkel, Tatkraft und Untätigkeit bewusst zu sein. Für einen Moment ist alles still gestellt, selbst die Sanduhr über ihrem Kopf ruht.
Albrecht Dürer, heute vor 550 Jahren geboren, würde die Resonanz auf sein Werk sicher mit einem Augenzwinkern zu Kenntnis nehmen. Seit Jahrhunderten wird der Melencolia-Mythos neu interpretiert und jedesmal wieder zum Leben erweckt. Ob der am Samstag stattfindende Sängerwettbewerb, auch Eurovision Song Contest genannt, ebenfalls ein lebendiger Mythos ist? Seit dem ersten Wettbewerb im Jahr 1956 konnten sich meist Songs durchsetzen die in der Rückschau verstaubt und überholt klingen. Mit der übermäßigen Huldigung des aktuellen Geschmacks wird meist ein hoher Preis gezahlt: Jahrzehnte später wirken die gleichen Songs wie Gefangene ihrer Zeit. Als große Ausnahme ließe sich das Jahr 1974 herbei zitieren, in dem ABBA mit Waterloo ein rauschendes Fest feierten. Der Auftritt, der Song, die dynamisch perlenden Klavierakkorde klingen noch heute wie eine frische Nordseeböe. Übrigens ließ der große Erfolg noch auf sich warten. Ein ganzes Jahr musste sich ABBA bis zur nächsten Nummer eins gedulden. Als ihre Karriere schon auf Messers Schneide stand, schoss endlich der Song SOS europaweit an die Spitze. Mit dem Morsezeichen für in Not geratene Schiffe folgten ABBA dem Vorbild von Arion von Lesbos und sangen ihre rettenden Delfine selber herbei. Aber für Agnetha, Anni-Frid, Björn und Benny war das wohl keine Überraschung. Denn schon ein Jahr vorher sangen sie in der Strophe von Waterloo: „The history book on the shelf / is always repeating itself“.
Du spinnst einen seidenen Faden der von Arion von Lesbos, über Dürers Melancolia 1,
zu ABBA im Jahre 1974 führt und immer zeigen sich Delphine, die als unverhoffte Retter erscheinen.
Daraus erwachsen Mythen als ewige Erzählungen.
Sie warten darauf, von Kolumnisten entdeckt und erzählt zu werden.
stoikus