Kolumnen
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Eine Kolumne von Bastian Flimm
Zwei Physiker essen Spaghetti, freuen sich auf die Bundestagswahl und gucken griechisches Sommertheater
18. Juni 2021
Die Geliebte eines Gottes zu bewachen ist eine undankbare Aufgabe. Der Riese Argos sollte auf Heras Befehl die Priesterin Io bewachen, damit Heras Gemahl Zeus die Finger von ihr ließ. Hera wählte Argos, den Allsehenden, weil er mit seinen 100 Augen bestens für die Aufgabe geeignet schien. Argos setzte sich oben auf einen Berg und hielt in alle Himmelsrichtungen Ausschau. Zeus aber blieb nicht tatenlos und schickte ihm den Himmelsboten Hermes vorbei. Hermes wusste wohl, dass Argos nichts entging, konnte ihn dafür mit seinem Flötenspiel einschläfern. Sobald Argos schlummerte, erschlug er ihn. Io war befreit und floh. Zeus konnte sich ihrer bemächtigen und am Strand des Nils gebar sie einen Sohn. Später durfte sie das Volk am Nil regieren. Als sie starb, wurde ihr zu Ehren ein Tempel gebaut.
Einen Tempel in Form des Nobelpreises hat man vor 100 Jahren dem Physiker Albert Einstein gebaut. Mit seinen Erkenntnissen legte er u.a. die Grundlagen für die spätere Erforschung von schwarzen Löchern. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass die Existenz von schwarzen Löchern, die er selber bezweifelte, heute ausgerechnet mit seiner Relativitätstheorie begründet wird. Ein schwarzes Loch kann entstehen, wenn ein Stern kollabiert bzw. implodiert. Die Masse des Sterns reduziert sich auf einen Bruchteil des ursprünglichen Werts und damit werden die Gesetze von Raum und Zeit ausgehebelt. Würde ein mutiger Astronaut sich an die Grenze eines schwarzen Lochs wagen, könnte er zweifelsohne in die Zukunft reisen. Allerdings würde er riskieren, verschluckt zu werden. Das ist nicht ungefährlich, denn das schwarze Loch würde seinen Körper in die Länge ziehen. Im Anspielung auf eine handelsübliche Spaghetti, nannte der Physiker Stephen Hawking diesen Vorgang Spaghettifizierung.
Spaghetti gelten als besondere Herausforderung, was die Einhaltung von Tischmanieren betrifft. In den verbleibenden 100 Tagen bis zur Bundestagswahl werden wohl einige gute Sitten unter den Tisch fallen. Manch ein Politiker träumt davon, die Konkurrenz wie einen Himmelsstern zur Implosion zu bringen. Doch wird gerne vergessen, dass oft ein Ehepartner benötigt wird, um die Treppen zum Regierungsolymp hinaufzusteigen. Die Rolle der eifersüchtigen Ehefrau hat schon die SPD für sich reserviert, denn sie hat Angst vor der Verbannung ins nächstbeste schwarze Loch. Göttervater Zeus darf ausnahmsweise ein letztes Mal von der CDU gespielt werden, aber nur weil Schützenhilfe aus Sachsen-Anhalt kam. Der Himmelsbote Hermes wird von der wiedererstarkten FDP heldenhaft zum Besten gegeben. Und wer darf die schöne Io verkörpern? Selbstverständlich die Grünen, die sich nur in Acht nehmen müssen, von der koalitionsbereiten prallen Männlichkeit nicht in eine Zweckehe genötigt zu werden. Und welche Rolle fällt der AFD zu? Für sie bliebe nur Argos übrig. Wer sich schon auf den Tod des Riesen freut, der sei gewarnt. Erstens suchen seine 100 Augen Tag und Nacht den Horizont nach Feinden ab. Zweitens mag das griechische Sommertheater diese Erkenntnis zu Tage fördern: die für den Triumph notwendige Kunst des Flötenspiels, wie sie einst Hermes beherrschte, ruht still und lange vergessen in einem fernen schwarzen Loch.