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B. Flimm

Das Streiflicht

Eine Kolumne von Bastian Flimm

Das Streiflicht

25.1.2021

Auf seiner Italienreise ließ Ludwig Tieck sich von der spanischen Treppe in Rom inspirieren und, aufwärtsblickend zur doppeltürmigen Nationalkirche Trinità dei Monti, schrieb er im Jahr 1823: „Und übe mich im ermüdenden Spiel / Fast bis die Kräfte schwinden / Schon fühl‘ ich mich leichter / Heitrer, kräftiger / Die Fesseln lösen sich gelinde / Und dankbar schau ich hinauf / Zu meinem hohen Arzte“. In wenigen Zeilen vermag der Autor das Wechselspiel zwischen Anstrengung und Erlösung doch vorbildlich zu transportieren, geradezu leibhaftig erscheint Tieck vor dem geistigen Auge, nimmt fließend die Stufen hinauf und hinab und weiß um die reinigende Kraft des Treppensteigens. 

Es muss ein Architekt gewesen sein, der die Wahltermine dieses Jahr so virtuos aneinanderreihte, dass einem der Atem stockt, als stünde man am Fuße der erwähnten Treppe. Die Katharsis des Treppensteigens beginnt mit der Kommunalwahl in Hessen sowie den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, alle am 14. März. Es folgt ein Abstecher ins Land der Frühaufsteher, Sachsen-Anhalt, denn hier wird am 6. Juni der Landtag gewählt. Danach dürfen die Schweißperlen in aller Ruhe auf die steinernen Stufen tröpfeln, es folgt ein Sommer der sorgfältigen Prüfung, in dem jeder seinen Wunschzettel für das herbstliche Finale zusammen kritzelt. Die Vorbotin der Ernte ist die Kommunalwahl in Niedersachsen am 12. September, eine Ouvertüre nur, denn am 26. September erreichen wir die höchste Stufe und blicken auf das doppeltürmige Nationalereignis: die Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Berlin, und selbstverständlich das Erntedankfest in höchster politischer Ausprägung, nämlich die Bundestagswahl.

Während auf dem Siegertreppchen lachende Gesichter sich zuprosten, werden die Glücklosen mit dem Besen ein paar Stufen abwärts gekehrt. Trost darf ein jeder in der Literatur finden, erst recht wenn es darum geht, schmerzhafte Ereignisse zu verarbeiten. Alan Alexander Milne beispielsweise schuf einen Helden namens Pu der Bär, der bekanntlich den Siegeszug um die Welt antrat, aber es anfangs noch schwer hatte. Gleich im ersten Kapitel kommt er, von Christopher Robins Hand baumelnd, „die Treppe herunter, rumeldipumpel, auf dem Hinterkopf.“ Auf solch schmerzhafte Weise die Stufen herab geschleift zu werden, möchte man seinem schlimmsten, politischen Feind nicht zumuten. Welch ein Segen, dass es das Buch gibt, so dass ein Parteivorsitzender, der kurz nach den ersten Hochrechnungen seinen Rücktritt verkündet, sich auf dem Heimweg gleich darin vergraben kann und den Abenteuern eines Bären folgen darf. Denn so steht es geschrieben, verschlüsselt zwischen den Zeilen, in diesem Honigbuch der bärischen Moderne, dass auf das traurige Treppab eines Tages das tirilierende Treppauf folgt. Oder um es in den Worten eines Ludwig Tiecks zu sagen: „Schon fühl‘ ich mich leichter / Heitrer, kräftiger / Die Fesseln lösen sich gelinde“.