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B. Flimm

Das Streiflicht

Eine Kolumne von Bastian Flimm

Das Streiflicht

Wenn Berge sprechen könnten, wäre die Menschheit schon einen entschiedenen Schritt weiter. Man stelle sich vor, der Mount Everest betrachtet mit einem Lächeln die menschlichen Bemühungen seine genaue Höhe fest zu stellen. Da finden sich Wissenschaftler aus China und Nepal zusammen und berechnen zum ersten Mal gemeinsam wie hoch seine Spitze über den Meeresspiegel ragt. Bisher kamen die Teams der zwei Länder zuverlässig zu abweichenden Ergebnissen. Das hat vielleicht damit zu tun, dass die Chinesen die Meereshöhe von Qingdao am Gelben Meer als Referenzpunkt nehmen, die Nepalesen dagegen Karatschi am Indischen Ozean. Dazwischen liegen immerhin 6.000 Kilometer.

Das Ergebnis des Gemeinschaftsprojekts wurde Anfang der Woche verkündet: der Mount Everest ist 86 Zentimeter höher als bisher gedacht, an Stelle von 8.848m ist er nun 8.848,86m hoch. Man könnte über diese winzige Differenz schmunzeln, sich überhaupt fragen, ob es denn nichts Wichtigeres gibt. Aber die aktuellen Messungen haben ihren guten Grund. Nach dem schweren Erdbeben in Nepal im Jahr 2015 hat man vermutet, dass der Berg geschrumpft sei, da es eine Verschiebung der tektonischen Platten gab. Das war tatsächlich schon mal vorgekommen, und zwar schrumpfe der Mount Everest nach dem Erdbeben im Jahr 1934 um 63 cm. Berge scheinen überhaupt eine sportliche Spezies zu sein, denn sie bewegen sich auch über den Erdball, im Moment wandert der Mount Everest mit einem Tempo von 4cm pro Jahr in nordöstliche Richtung. Wenn Berge hin und her wandern, wenn sie wachsen oder schrumpfen, was heißt das eigentlich? Wäre es anmaßend zu behaupten, dass es einem wachsenden Berg gut geht, einem schrumpfenden Berg dagegen schlecht? Das ist ziemlich einfach gedacht, doch irgendwie muss es doch möglich sein dem Rätsel auf die Spur kommen.

Es haben sich schon viele kluge Leute Gedanken über Berge gemacht. Konfuzius schrieb: „Die Menschen stolpern nicht über Berge, sondern über Maulwurfshügel.“ Ganz fatal wäre es, wenn diese zwei Hindernisse zeitgleich in Erscheinung träten, wenn man also auf einem Berg, bei beispielsweise 8000m, über einen Maulwurfshügel stolperte. In solchen Fällen machen 86 cm einen erheblichen Unterschied, und allein schon aus diesem Grund, also zum besseren Schutz der bergsteigenden Zunft, ist die Neuvermessung des Mount Everest absolut zu unterstützen. Aber Moment mal, da hat Konfuzius noch etwas weiteres geschrieben: „Das Wasser haftet nicht an den Bergen, die Rache nicht an einem großen Herzen.“ Nun das ist schon anspruchsvoller. Sicherlich bewegte sich Konfuzius, als er dies schrieb, auf einer Höhe von etwa 8.848m, und rechnet man noch die Eisschicht hinzu, könnte ihm diese Weisheit auch bei 8.851m zugeflogen sein. Ob Konfuzius ein begeisterter Bergsteiger war ist nicht überliefert, aber es ist bekannt, dass er als Wanderlehrer mit seinen Schülern von einem Fürstenhof zum nächsten zog. Insofern haben der Mount Everest und Konfuzius etwas gemeinsam, nämlich dass sie beide gerne wandern bzw. wanderten. Als der Mount Everest in den letzten Jahren um 86cm in die Höhe schnellte, wollte er sicher nur seinem alten Wanderkumpel einen Gruß bestellen. Aber das ist mal wieder viel zu einfach gedacht. Dem Rätsel auf die Spur zu kommen bleibt eine gewaltige Aufgabe. Und vielleicht ist es doch ganz gut, dass Berge gar nicht sprechen können. Cum tacent clamant. Indem sie schweigen, reden sie.

9. Dezember, Bastian Flimm