B. Flimm
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Eine Kolumne von Bastian Flimm
9. April 2021
Pioniere der Mathematik und warum die Wurzeln von Youtube in Bagdad liegen
Einer Legende zufolge erfand ein indischer Brahmane das Schachspiel im 4. Jahrhundert. Das Spiel soll aus der Not heraus entstanden sein, weil der damalige Herrscher seine Untertanen tyrannisierte. Der Brahmane entwarf ein Spiel, bei dem der König alleine wenig ausrichten kann. Es gefiel dem Herrscher, der infolge sanfter wurde und das Spiel verbreiten ließ. Aus Dank gewährte er dem Brahmanen einen Wunsch; dieser wünschte sich auf dem ersten Feld des Schachbretts ein Reiskorn, auf dem nächsten Feld zwei, danach vier und für jedes weitere Feld doppelt so viel. Der Herrscher lachte über die Bescheidenheit des Wunsches, musste sich aber später von seinem Rechenmeister erklären lassen, dass so viel Reis in seinem Reich nicht vorhanden war. Die Anekdote verdeutlicht, dass exponentielles Wachstum schwer vorstellbar ist. Schnell vergisst man, dass ein Schachbrett 64 Felder hat und wer ist schon Hobby-Mathematiker genug, um auszurechnen, dass auf dem letzten Feld 9 Trillionen Körner liegen würden?
In diesen Wochen des sogenannten Lockdownendspurts hört man nur noch von exponentiellen Kurven, die steil in Richtung Decke zeigen. Aber nicht nur ein Virus, am liebsten möchte jeder Organismus, jedes Unternehmen exponentiell wachsen. Die Realität sieht meist anders aus: nach einem exponentiellen Anfang flacht das Wachstum ab. Übrigens ist die Schachlegende nicht aus dem indischen Raum, sondern aus Bagdad überliefert, eine Stadt die im Frühmittelalter ihre kulturelle Blüte erlebte. Im 9. Jahrhundert wirkte dort auch der Universalgelehrte Al-Chwarizmi. Sein Buch „Al-Chwarizmi über die indischen Zahlen“, lautet auf Latein übersetzt „Algoritmi de numero Indorum“. Der moderne Begriff des Algorithmus leitet sich aus diesem Buchtitel ab. Ein Algorithmus lässt sich heute als eine Reihe von Schritten definieren, die ein Problem lösen. Al-Chwarizmi war ein Vorreiter in diesem Sinne, weil er es verstand mathematische Probleme bildhaft darzustellen und nachvollziehbare Regeln schuf.
Kaum jemand denkt an solch einen Pionier, wenn das nächste Video auf Youtube vorgeschlagen wird. Der programmierte Algorithmus fördert das hervor, was viele Menschen sehen wollen. Kulturell wertvoll ist hier eher die Ausnahme. Aber stopp – was passierte diese Woche? Mit exponentieller Geschwindigkeit schnellte das Video „Fantastic Music Medley“ auf Platz eins der Youtube-Charts. Das Video der größten Modelleisenbahn der Welt, Miniatur-Wunderland in Hamburg, ist tatsächlich ein Augen- und Ohrenschmaus. Die Modellbahnlokomotive tuckert durch eine Miniaturlandschaft, mit zwei Hämmerchen ausgestattet schlägt sie gegen Weingläser, die genauso platziert und passend gefüllt sind, dass insgesamt 30 klassische Melodien ertönen. Der Kommentar eines Zuschauers lautet: „Mehr Herz, Leidenschaft & Teamgeist kann eine kleine Lok gar nicht ausdrücken“. Wenn man bedenkt, dass das Miniatur-Wunderland seit einem Jahr kaum Einnahmen zu verzeichnen hat, dass diesem Unternehmen wie vielen anderen das Wasser bis zum Hals steht, so kann man vor lauter Respekt nur den Hut ziehen. Oder um in der Sprache eines findigen Brahmanen zu bleiben: mit einem klugen Schachzug hat sich das Schachmatt in Luft aufgelöst.
Exzellent! Lehrreich, bunt und rund. Das ist jetzt Standard. 🙂
Max A.
diese Kolumne kann sich jeder denkende Mensch an den Spiegel heften. Endlich einmal werden Begriffe wie Exponentielles Wachstum und Algorithmus anschaulich durchleuchtet. Dabei kommt einen Augenblick, mit den Reiskörnern, das Mystische in der Mathematik zum Vorschein. Dank sei auch dem Gelehrten Al- Chwarizmi, in seinem Namen kommt ja mit der Silbe „riz“ das Reiskorn vor.
stoikus