B. Flimm
flimm-sala-bim
Eine Kolumne von Bastian Flimm
16. April 2021
In den klaren Aprilnächten können die großen Fragen der Politik mit den Sternen verhandelt werden
Im Jahr 245 v.Chr. entdeckte der Astronom am Hof von Alexandria, Konon von Samos, ein neues Sternbild am Nachthimmel. Er fand einen sogenannten Galaxienhaufen, in dem tausende Galaxien über Gravitation miteinander verbunden sind. Er benannte ihn nach einer kürzlich verschwundenen Locke der Königin Berenike II. ‚Haar der Berenike‘. Die Königin hatte zuvor versprochen, ihr Haar zu opfern, sollte ihr Gemahl siegreich und unversehrt aus einem Krieg heimkehren. Als ihr Gemahl und König tatsächlich siegte, schnitt sie ihr Haar ab und legte es in einen Tempel. Am nächsten Tag war die Locke fort. Konon von Samos erklärte, dass es ein Werk der Götter sei, die die Haarpracht am Himmel verewigt hätten.
Ein paar hundert Jahre später griff der römische Dichter Catull den Stoff auf: er schildert die Geschichte aus Sicht der Locke. Gegen ihren Willen habe sie das Haupt der Königin verlassen müssen, sie habe der „Gewalt des Eisens weichen müssen.“ Sie beschreibt, wie der Wind Zephyros sie aus dem Tempel entführte und in den Himmel setzte. Als Gestirn blickt sie seitdem herab, sehnt sich danach auf dem Kopf der Königin „das Parfüm einer verheirateten Frau genießen zu dürfen“ und wünscht sich, dass der Sternenhimmel einstürzen möge. Glücklicherweise ist das bisher nicht geschehen und wenn man in diesen kühlen Aprilnächten spazieren geht, lässt sich das Haar der Berenike leicht finden. Am südlichen Nachthimmel leuchten drei Sterne besonders hell, dies ist das sogenannte Frühlingsdreieck, bestehend aus den Sternen Regulus, Spika und Arktur. Genau in der Mitte des Dreiecks schwebt die königliche Locke und wartet darauf, die Rückreise in Richtung Erde anzutreten.
Allerdings mag ein stimmungsvoller Abendspaziergang nicht für jeden möglich sein. Die Locke der Berenike zeigt sich ausgerechnet im Zeitraum, der als Ausgangssperre ab einer Inzidenz von 100 vorgesehen ist: von 21 Uhr abends bis 5 Uhr morgens. Wenn die von der Regierung geplante Änderung des Infektionsschutzgesetzes in Kraft tritt, wird solch Vergnügen der Gewalt des Eisens weichen müssen. Der Wind des Zephyros tobt derzeit durch das politische Berlin, das ganze Land ist längst in einen stillen Krieg hineingerutscht. Ob die Grundrechte am Ende noch Haare auf dem Kopf haben und ob die Krankenhäuser gesund aus dem Virusfeuer zurückkehren ist ungewiss. Die unüberlegten Handlungen der taumelnden Regierung drohen sich im Galaxienhaufen zu verirren. Kaum wird die Ausgangssperre Bundestag und Bundesrat passieren und selbst wenn, ist es unwahrscheinlich, dass solch ein Freiheitsentzug vor dem Verfassungsgericht Stand hält. So manch ein Richter geht vielleicht selber abends spazieren, um ein Urteil nochmals zu überdenken. Und wie war es bei den alten Griechen in Alexandria? Die Ordnung des himmlischen Kosmos war stets Vorbild und Leitstern für die politische Ordnung auf der Erde. Und sie wussten: es tut gut sich immer mal wieder daran zu erinnern, in dem man einen nächtlichen Blick nach oben wirft.
sehr schön, vielleicht ein bißchen viel aktueller Polit-Kaffeesatz im letzten Teil. „Zeitfenster“ ist ein Wort, das bei mir auf dem Index steht und Catull ist wohl „nur“ der Übersetzer des Gedichts von Kallimachos aus dem Griechischen ins Lateinische.
CM