Seite wählen

Kolum­nen

flimm-sala-bim
Eine Kolumne von Bastian Flimm
16. April 2021

Von echten und märchenhaften Kaisern und warum ein Besuch auf der Insel Helgoland Erstaunliches zutage fördert

Im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans-Christian Andersen geht es um einen Kaiser, der sich wenig um die Staatsgeschäfte kümmert. Er will nur spazieren fahren, um seine neuen Kleider zur Schau zu stellen. Eines Tages lässt er sich von Betrügern überreden, Röcke mit einer besonderen Eigenschaft zu kaufen: sie sind unsichtbar für alle jene, die dumm oder für ihr Amt nicht geeignet sind. Keiner der Hofstaat-Eminenzen traut sich nun, die Existenz der Kleider in Frage zu stellen, denn die Ganoven beherrschen ihr Handwerk und beschreiben ihre Schönheit bis ins letzte Detail. Schließlich zieht der Kaiser die nicht vorhandenen Kleider an und lässt sich von seinen Untertanen bei einer Parade bewundern. Nur ein Kind kann dem Spuk ein Ende setzen, denn es ruft: „Aber er hat ja gar nichts an!“

Ein Kaiser, der Anfang dieser Woche seinen 1900. Geburtstag gefeiert hätte, ist Marc Aurel. Weder Eitelkeit noch Vernachlässigung der Staatsgeschäfte kann man Ihm vorwerfen. Ganz im Gegenteil: er kämpfte tagsüber an der nördlichen Grenze des römischen Reiches gegen aufständische Germanen und schrieb abends sein vielzitiertes Buch „Selbstbetrachtungen“. Es ist nicht ganz klar, ob das Buch jemals für die Veröffentlichung vorgesehen war. Man vermutet, dass er im Selbstgespräch wesentliche Dinge aufschreiben wollte, um sich ihrer zu vergewissern. Als sogar eine Seuche das Reich bedrohte, schrieb er: „Ist nicht die Zerstörung der menschlichen Vernunft eine viel schlimmere Seuche als die Übertragung der Pest durch die Atemluft?“ Außerdem war er ein Meister darin, den kleinsten Dingen Aufmerksamkeit zu schenken: „So bekommt manchmal das Brot beim Backen Risse, die nicht in der Absicht des Bäckers lagen und doch eine erstaunliche Anziehungskraft für den Appetit haben.“

Die Insel Helgoland feiert ebenfalls ein Jubiläum: vor 300 Jahren zerbrach sie in zwei Teile. Seitdem gibt es die kleine Nebeninsel „Düne“. Aktuell reiben sich viele Insulaner verwundert die Augen. Obwohl die Insel coronafrei ist, gilt die abendliche Ausgangssperre, weil Helgoland zum Kreis Pinneberg gehört, der eine Inzidenz von über 100 hat. Und kaum ein Kaiser lässt sich finden, der, nackt oder in einer Tunika verpackt, gegen die Paragraphen der Bundesnotbremse ins Gefecht zieht. Aber es würde sich lohnen, denn seit der Antike ist bekannt, dass Helgolands Strände mit Bernstein gesät sind. Neuste Forschungen haben ergeben, dass Bernstein über stark antiinfektiöse Eigenschaften verfügt und somit zum wertvollen Rohstoff in pandemischen Zeiten geworden ist. Demnach ergibt sich ein klares Bild der politischen Lage. In Berlin befürchtet man, dass sich weitere Felsen der Küste vom Festland lösen. Die in die Nordsee strebenden Inseln folgen dem Heilsversprechen und suchen ihr Glück in den bernsteinblitzenden Wellen. So bekommt manchmal ein Land beim Backen Risse, die nicht in der Absicht des Bäckers lagen und doch eine erstaunliche Anziehungskraft für den Appetit haben.