Kolumnen
flimm-sala-bim
Eine Kolumne von Bastian Flimm
8. Januar 2022
Ein Vogel der Erinnerung fliegt zwischen der Edda und Major Tom hin und her
Als der Isländer Snorra Sturluson in den Jahren 1220 bis 1225 die „Edda“ verfasste, wollte er nur ein Handbuch für Gelegenheitsdichter schreiben. Ihm missfielen die neuartigen Gedichte der Engländer und Franzosen, die sich rasant vermehrten. Besonders die Bezüge zu den nordischen, mythologischen Figuren vermisste er und schrieb deshalb eben jene Mythologien auf, um die Dichter daran zu erinnern. In der sogenannten „Snorra-Edda“ lässt sich nachlesen, wie Odin an das Met der Poesie kam. Odin verwandelte sich in eine Schlange und gelangte in eine Höhle, wo Gunnlod saß und den Met beschützte. Der Riese Suttung hatte seiner Tochter, Gunnlod, diese Aufgabe übertragen. Odin, zurück in seiner menschlichen Form, gelang es, Gunnlod zu verführen und drei Tage später erlaubte sie ihm, vom Met der Poesie zu trinken. Er leerte den Kessel, verwandelte sich in einen Adler und floh. Suttung tat es ihm gleich und verfolgte ihn. Jedoch konnte Odin entkommen und spuckte den Met in einen Behälter, aus dem sich bis heute die Götter und, hin und wieder, die Menschen bedienen dürfen.
Wer vom Met der Poesie trinkt, verwandelt sich in einen Gelehrten, kann jegliche Quellen zitieren und alle Fragen beantworten. Solang der Rausch anhält, kann der Dichter Großartiges zu Papier bringen. Aber spätestens am nächsten Tag droht ihm der Absturz in die Bedeutungslosigkeit. Oder, gleichfalls gefährlich, winkt die Abhängigkeit vom himmlischen Honigwein. Erfreulicherweise hat der weise Odin den Konflikt voraus gesehen und eine Lösung gleich mitgeliefert. Im Gedicht „Havamal“ (des Hohen Lied), welches ihm zugeschrieben wird, steht geschrieben: „Wenn jemand trinkt, fliegt über ihn / ein gedächtnisraubender Vogel / und nimmt seinen Verstand mit / ich selber war gefangen / in seinen Federn als / ich trunken war bei Gunnlod.“ Odin deutet nur an, dass der übermäßige Alkoholkonsum Nachteile mit sich bringen könnte. Und mit dem gedächtnisraubenden Vogel glückt ihm eine in Erinnerung bleibende Metapher.
Ein Songpoet, dem viele erinnerungswürdige Zeilen gelangen, war David Bowie. Selten mit dem Erreichten zufrieden, übte er sich als Meister der Verwandlung und entwarf mit jedem Album ein neues Universum. Heute hätte er seinen 75. Geburtstag gefeiert, bestimmt mit etwas Honigwein, den er manchmal in Exzessen verzehrte. Die Götter flüsterten ihm so manch eine markante Melodie ins Ohr. In seinem epochalen Hit „Space Oddity“ nahm er die Rolle von Major Tom ein, ein Astronaut der durchs All schwebt und die Verbindung zur Erde verliert. „Here am I floating ‚round my tin can / Far above the moon / Planet Earth is blue / And there’s nothing I can do.“ Kaum hatte er ein Raumschiff betreten, ließ er es waghalsig hinter sich zurück. Und fand ohne Rücksicht auf Verluste zum nächsten Hit. So schuf er Mythologien, die viele neumodischen Songs zur Jahreswende 2021/22 schmerzlich vermissen lassen.
Anmerkung:
Den Auszug aus dem Gedicht Havamal habe ich dem folgenden Buch entnommen: „The Wanderers Havamal“, von Jackson Crawford (ISBN 978-1624668357)
Wer vom Met der Poesie trinkt steigt steil empor und stürzt schnell ab.
Odin tat – wie andere „Helden“ vor ihm, er verführt die Tochter des Riesen um
vom Met der Poesie zu trinken. Mit einem Trick – Verwandlung in einen Adler – kann Odin entkommen.
David Bowie nimmt den Mythos auf und fängt die Melodie ein, die ihm die
Götter zuflüstern. So finden sich in den Mythen der Völker, die Erzählungen ihres Seins.
Wer sich in ihre Welt begibt, kann sie auffangen und wieder los lassen: sie gehören uns allen.
Welch tröstliche Botschaft in Zeiten wachsender Vergeblichkeit. Eine Kolumne voller Lebendigkeit
Hat Bowie wirklich Met getrunken? Wenn ja, ist das wohl ein zu empfehlendes Getränk.
Met Poesie
Poet im See
Pose im Tee
Tom spie ee
Es ist eine sehr gelungene Mischung aus Sage, Märchen und moderner Poesie. Mit guter Recherche
erhält die Story auch Seriosität. Gut zu lesen.