J. Papadam
Ich wüsste gerne heute, was ich gestern gelesen habe
Aus der Reihe >Ich wüsste gerne heute, was ich gestern gelesen habe<
Für ein Vanille-Eis samt Rückfahrkarte nehmen Sie das Gehirn eines umherirrenden Wanderers und teilen es durch zwei
An einem schattigen Abend auf dem Balkon, während ich mich über die spiritusgetränkten Rauchschwaden meiner grillenden Nachbarn ärgerte, stieß ich auf folgende Nachricht: die Gemeinde Lützen, im Süden von Halle und Leipzig gelegen, hat im laufenden Jahr mit erheblichen Steuerverlusten zu kämpfen. „Sie wird nicht die einzige Gemeinde sein“, sagte ich mir und wollte weitere Überlegungen verwerfen. Aber dann schoss mir ein Gedanke in den Kopf: warum nicht nach Lützen wandern? Immerhin könnte ich mit ein paar Talern der dortigen Gastronomie sowie dem Nahverkehr etwas Gutes tun. So kam es, dass ich mir die Wanderschuhe um die Füße schnürte und mich auf den Weg machte.
Ich hatte schon ein paar Wanderstunden zurückgelegt und lief wie eine Vogelscheuche mit Spiegelei-Gehirn über einen vor Durst zerbröselnden Landweg. Müdigkeit hin und Hoffnungslosigkeit her, meine Wasserflasche war ausgetrocknet; irgendwas musste passieren. Und da, hinter einer Kurve, lugte aus einem Wäldchen ein niedliches Dorf hervor. Die Straßen waren ausgebombt leer und meine Gebete, an der einen oder anderen Ladentür etwas Trinkbares zu ergattern, von der Sonne gnadenlos pulverisiert. Das einzige Lebenszeichen war ein Schild am Straßenrand: „Sommer-Aktion: Enthaarung -15%“. Kurzum, ich begab mich in den Laden und fragte nach einem Haarschnitt. Jedoch musste ich lernen, dass dies kein Friseur war, sondern ein Kosmetikstudio. Ich befand mich schon in der Drehung rückwärts, als ich hörte: „Meine Mutter kann’s machen, Friseurin im Ruhestand, hat noch ihre Schere von `85“. Das klang vielversprechend. Jedenfalls bekam ich einen Haarschnitt und durfte anschließend meine Wasserreserven auffüllen. Aber nur eine Stunde später, zurück auf den Landwegen, verließen mich die Kräfte. Obendrein bekam ich es mit Fata Morganen zu tun. Ich musste feststellen: vibrierende Wassertümpel am Horizont, die nach Belieben im Zickzack springen, besitzen die Macht einen ortsfremden Wanderer ins Nirvana der Orientierungslosigkeit zu schießen.
Schließlich stolperte ich ins Herz von Lützen. In den Rauchschwaden meines gegrillten Geistes konnte ich den Marktplatz erkennen, sogar die Umrisse eines Eiscafes sowie ein paar Schritte weiter ein Schloss mit Museum. Ich konnte immerhin in Erfahrung bringen, dass im 30-jährigen Krieg die Schlacht bei Lützen eine gewisse Rolle spielte. Die Füße trugen mich zur Bushaltestelle und dort, mit dem wunderbar kühlenden Vanille-Eis in der Hand, musste ich mir eingestehen: dieser Ausflug – was für ein riesiger Quatsch! Als ich in den Bus stieg und eine Rückfahrkarte kaufte, wurde mir jedoch klar: es muss ein Denkmal her, mit einer bedeutsamen Inschrift wie die aus dem antiken Griechenland: „Wanderer kommst du nach Sparta …“ Die einzige Frage war, wem oder was sollte das Denkmal gewidmet sein? Da fiel mir der mutige Wanderer ein, Autor von „Spaziergang nach Syrakus“, Johann Gottfried Seume. Aber das Denkmal sollte nicht seiner Person, sondern seiner Maxime gewidmet sein. Auf die Frage, warum er eine solch anstrengende Wanderung unternommen hatte, soll er geantwortet haben: „Um das zusammengesessene Zwerchfell auseinander zu wandeln.“ Was für eine treffende Antwort. Ich kann mir Seume bestens vorstellen wie er im Verlag sitzend, gebeugt über endlos lange Papierstapel, sein Zwerchfell rufen hört. Beeindruckend ist, dass Seume diesem Ruf folgte und die Strecke bis ins südliche Sizilien zu Fuß zurücklegte.
Hier also nun, ganz offiziell, die Inschrift für das in Kürze entstehende Denkmal in der Stadtmitte von Lützen … Trommelwirbel:
Oh Wanderer kommst du nach Lützen
dein Zwerchfell endlich befreit
träumst du von Regen und Pfützen
lauf weiter, der Weg ist noch weit
Jan Papadam…
Während diese Kolumne in den Druck geht, sitzt er in fröhlicher Runde bei seinen grillenden Balkon-Nachbarn. Vom Wein beflügelt entwerfen sie das Denkmal: in der Mitte ein überdimensionaler Regentropfen, ringsum 85 Friseurscheren die wie kleine Metallfiguren einen Regentanz veranstalten. Es gibt schon ein Budget, allerdings ist es möglich, dass die realen Kosten bis zu 15% abweichen können.