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J. Papadam

Ich wüsste gerne heute, was ich gestern gelesen habe

Aus der Reihe >Ich wüsste gerne heute, was ich gestern gelesen habe<

Es gibt Hoffnung, denn obwohl sich in den letzten 200.000 Jahren ein paar Dinge geändert haben, gehen noch immer Säugetiere durch den Herbst spazieren

  1. Oktober 2020

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die die höchste Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Als ich gestern in der Karl-Liebknecht-Straße eine Frau mit Kastanienblatt in der Hand sah, dachte ich mir, das Blatt ist bestimmt das Souvenir eines schönen Herbstspaziergangs. Bedauernswert ist, dass sie nicht anhielt, um ein Foto zu machen, z.B. vom Landesmuseum für Vorgeschichte gegenüber. Denn in diesem Fall hätte ich mit meinem Wissen glänzen können. Überhaupt fällt mir auf, dass wenn man etwas weiß, wird man selten danach gefragt; wenn man aber nichts weiß, wollen immer alle genau das wissen, was man nicht weiß – warum ist das so? Jedenfalls hätte die Kastanienblattfrau, wenn sie ein Foto gemacht hätte, folgendes von mir zu hören bekommen: „An Ihrer Stelle würde ich mal prüfen, ob Ihre Kamera schon in Zeptosekunden belichtet. Es wäre geradezu peinlich sollten Sie noch das überholte Maß der Attosekunden verwenden.“ Andererseits: wäre ich selber dabei ein Foto zu machen und es käme jemand vorbei, der mir solch einen Unsinn ins Ohr krakeelt, würde ich, archaische Aggressionen geweckt, wie das Mammut von Pfännerhall zum Angriff übergehen. Wenn ich den Gegner mit den Stoßzähnen dem Erdboden gleich gemacht hätte, wäre zwar der Feind erlegt, aber noch die Frage ungelöst, was es mit Zepto- oder Attosekunden auf sich hat. Deshalb soll an dieser Stelle das Rätsel gelöst werden, denn Sie wissen nie, wann Sie mal ein Foto machen wollen und von der Seite auf rüpelhafte Art angequatscht werden.

Die gelehrten Physiker mögen mich korrigieren: die Geschwindigkeit des Lichts ist eine Konstante im Universum. Misst man die Zeit die das Licht benötigt, um vom Mond zur Erde zu gelangen, kommt man auf ungefähr eine Sekunde. Würde man nun die Strecke, die das Licht zurücklegt immer weiter reduzieren, sagen wir bis zur Größe eines Wassermoleküls, dann würde man feststellen, dass das Licht in einer Attosekunde diese Reise zurücklegt. Das ist eine ziemlich erstaunliche Sache und als Zahl dargestellt sieht das wie folgt aus: eine Attosekunde ist 0,000 000 000 000 000 001 Sekunde. Bis vor wenigen Jahren war die Messung in Attosekunden das höchste der Gefühle, denn keiner konnte eine kürzere Zeit messen. Jedoch wurde vor wenigen Tagen ein neuer Rekord vermeldet. Die Speerspitze der weltweiten Bemühungen kann die Zeit jetzt in Zeptosekunden messen. Jetzt möchten Sie auch noch wissen was das ist? Von der Entfernung her befinden wir uns wie bei der Attosekunde noch im Wassermolekül, doch nur um den Faktor 1.000 kleiner, in Zahlen dargestellt sieht das so aus: eine Zeptosekunde beträgt 0,000 000 000 000 000 000 001 Sekunden.

Das 200.000 Jahre alte Mammut von Pfännerhall, welches im Eingang des Landesmuseums steht, hat schon so manchen Touristen mit seinen Bonmots überrascht, z.B.: „Ganz gleich wie die Belichtungszeit, aus Wolle bleibt mein Federkleid.“ Ja, und es ist wirklich wahr, dass eben jenes Mammut stets in Wolle gekleidet war, welches als Fingerzeig in die heutige Zeit zu verstehen ist. Nicht nur macht ein Mammut im Wollkleid ein ansehnliches Bildmotiv, nicht nur zeigt es uns Menschen, wie man sich klimaneutral kleidet, nämlich am besten mit auf der eigenen Haut wachsenden Wolle, sondern, und darauf kommt es an, die in der Wolle des Mammuts verirrten Wassermoleküle können nun dank der Zeitmessung in Zeptosekunden noch genauer untersucht werden. Das wissenschaftliche Ergebnis könnte die Fachwelt mit folgender Meldung überraschen: „Mammut von Pfännerhall ging vor 200.000 Jahren an der Unstrut spazieren … und sammelte Kastanienblätter“. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie hab‘ ich das Gefühl, dass sich seit der letzten Eiszeit gar nicht so viel verändert hat.

 

Jan Papadam …

musste ernüchtert feststellen, dass die maximal kurze Belichtungszeit in Standardkameras nur 0,0002 Sekunden beträgt. Ein Skandal, wie er findet, erst recht wenn man bedenkt, dass das Licht in der Zeit 60 km zurück legt. Rein zufällig ist das die Strecke die Jan Papadam fährt, wenn er Wassermoleküle in der unberührten Natur beobachten will, und zwar von Halle nach Kleinjena, wo die Unstrut in die Saale mündet