J. Papadam
Ich wüsste gerne heute, was ich gestern gelesen habe
Aus der Reihe >Ich wüsste gerne heute, was ich gestern gelesen habe<
Das in den Medien verkündete Wort des Jahres lässt aufhorchen, und führt zu weiteren Überlegungen
01. Dezember 2020
In dieser Woche verkündet die Gesellschaft für deutsche Sprache e.V. das Wort des Jahres. Laut Selbstauskunft des Vereins kommt es beim Wort des Jahres weniger darauf an, wie oft ein Wort benutzt wird, sondern vielmehr, ob es den sprachlichen Nerv des ausgehenden Jahres trifft. Somit will das Wort des Jahres einen Beitrag zur Zeitgeschichte leisten. Es ist landauf und landab zu lesen, dass „Corona-Pandemie“ zum Wort des Jahres gewählt wurde. Wie jedes Jahr wird das Siegerwort aus einer Liste der Top 10 Wörter ausgewählt. Glücklicherweise halte ich diese Liste in der Hand, und freue mich wie ein kleines Kind darüber, denn wie bei Casting-Shows stecken oft die interessantesten Kandidaten auf den unteren Plätzen. Außerdem gibt die Liste mir die Möglichkeit eine Auswahl zu treffen, um mein persönliches Wort des Jahres zu ermitteln.
Der dritte Platz und somit die ehrenhafte Bronzemedaille geht an „Bleiben Sie gesund!“, welches streng genommen kein Wort sondern eine Redewendung ist. Wem scheppert nicht das Echo dieser Abstand haltenden Abschiedsformel wie eine Blechtrommel im Stirnlappen? Als stolzen Empfänger der Silbermedaille darf ich „Gendersternchen“ im illustren Kreis der Superwörter begrüßen. Nicht nur wird seit diesem Jahr sogar auf Empfehlung des Duden „gegendert“, um allen Geschlechtern gerecht zu werden, sondern „Sternchen“ selbst stellt ein Hauptwort mit sächlichem Geschlecht dar und benötigt somit keine gendergerechte Abwandlung – wie praktisch! Gewiss wird „Gendersternchen“ sich respektvoll vor dem Sieger in Gold, nämlich vor „Geisterspiele“ verneigen. Ein hoch verdienter erster Platz, der nicht nur auf schweigsame Fußballspiele hinweist, sondern auch die leeren Marktplätze in Erinnerung ruft, auf denen hin und wieder vereinzelte Schatten hinüber huschen, die an ihren Fingern die Anzahl der teilnehmenden Haushalte der wöchentlichen Doppelkopfrunde abzählen. In der Mehrzahl formuliert versammelt das Wort „Geisterspiele“ viel mehr als nur Fußball- und Kartenspiele unter seine Fittiche.
Das persönliche Wort des Jahres könnte eine Institution werden. Ich empfehle Ihnen, sich ein solches Wort auszusuchen, denn daraus ergeben sich viele Vorteile. In jeglicher Situation halten Sie eine hinüberrettende Antwort auf eine unerwartete Frage bereit. Wenn der Kollege am Kaffeeautomaten fragt, wohin es in den nächsten Urlaub geht, lehne ich mich lässig zurück und sage „Geisterspiele“. Erhalte ich den Anruf eines Verkäufers, der den neuen Handytarif schmackhaft machen will, rufe ich nervös „Geisterspiele“ und habe zumindest ein paar Sekunden Zeit gewonnen. Werde ich abends von meiner Partnerin gefragt, wie der Tag war, kann ich entspannt „Geisterspiele“ am Rotweinglas vorbei hauchen. Das persönliche Wort des Jahres kann ich mir leicht merken, 24 Stunden am Tag steht es zu meinen Diensten, und ist ein guter Freund in dunklen Stunden. Das ist im Hinblick auf die Jahreszeit und den bevorstehenden Winter ein tröstlicher Gedanke. Nur was mache ich ab Sylvester? Es beginnt das neue Jahr und da könnte man meinen, dass ein neues Superwort gebraucht wird. Aber ich glaube, das wird nicht nötig sein, erstens habe ich mich gerade mit „Geisterspiele“ eingerichtet und zweitens wird sich in den nächsten vier Wochen kaum so viel verändern, dass die Geisterspiele plötzlich abgepfiffen sind.
Etwas resigniert endet deine gute Kolumne, das geht nicht, es braucht im letzten Satz einen (schelmischen) Appell !
Heidi