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Skeptr0n Schmidt

Willkommen an Bord der Perle 65

Braucht die Welt noch ein weiteres Satire-Magazin? Klar doch, willkommen an Bord der Perle 65!

Von Skeptron Schmidt

Uns erreicht das Gedicht eines Toilettenpapierkünstlers, auch wenn sein Talent fragwürdig bleibt, möchten wir Leopardo G zumindest mit einer Fußnote erwähnen

Als ich letztes Jahr über einen Bordstein stolperte und mit dem Oberkiefer auf einen stählernen Fußabtreter traf, hörte ich ein Engel flüstern: „Schau mal her: Lyrikschreibende gibt es viel, Lyriklesende kaum.“ Die Botschaft ließ mich zunächst kalt und erst vor wenigen Monaten, als der Schleudersitz unter mir gezündet wurde und ich in hohem Bogen aus dem Büro flog und meine Arbeit verlor, hatte ich eine Idee. Um die Inflation an Lyrik zu sichten, machte ich einen Aufruf und ließ mir Gedichte zuschicken; mit dem einzigen Versprechen, dass ich sie lesen würde. Ich war erstaunt, als ich pro Woche zehn und manchmal noch mehr erhielt. Seitdem habe ich die Perle 65 gegründet, ein flottes Segelboot-Satire-Magazin, welches am liebsten über den Ringelnatz-Kanal hinaus auf das offene Robert-Gernhardt-Meer segelt. Ziel ist es mit satirischen Mitteln den Ozean wirkungsvoll aufzubauschen, am liebsten die Zehnmeterwelle über den Atlantik, den Pazifik bis zum indischen Ozean zu schicken. Zum Glück kann die Perle 65 in solchen Fällen abtauchen und dem eigens fabrizierten Sturm elegant aus dem Wege gehen; denn die Segelmaste senken sich herab und klappen im Bootsinneren zusammen. Wenn alle Luken dicht sind, schwebt sie in ein U-Boot verwandelt leise und unauffällig in die Meerestiefe.

Noch Fragen?

Ein willkürlicher Griff in den Bastkorb zaubert das Folgende zutage. Ohne großes Federlesen steigen wir ein, mit einem Gedicht von Leopardo G.

 

Emmanuel

rings wirbelt die Welt, ich lese

meine Geschichte wie nachts der Wächter

die Regenstunden. Das Geheimnis hat glückliche

Schatten, komm wir schieben den Wolkenkratzer

ein fallender Riese lacht, die Bücher ins Meer

zu werfen ein Film, gefrorene Figuren auf einer Fläche

das ist Kunst, die schwebenden Kräfte des Glücks

wollt‘ ich kennen, aber niemals bin ich verwandt

mit ihren Monden, wolltest nicht auch du im Funkeln

der Stadtlichter … – ach vergiss es, noch trommelt der Regen

wie der Anfang der Dinge auf die Glocke

namens Emmanuel die hängt in

Notre Dame

Leopardo G, Herumtreiber, Poet und Vorreiter der Toilettenpapierkunst, stellt sich gern auf den Marktplatz von Lützen, um als Perle-65-Wiederverkäufer Mitleid in Geld zu verwandeln; das ehrt ihn. Sein Gedicht ‚Emmanuel‘ können wir nur entschieden ablehnen. Auch wenn die ersten drei Zeilen dem Vers „Sichtbar unsichtbar“ von Salvatore Quasimodo entnommen sind. Fakt ist: die Perle 65 möchte lieber einen Eisberg rammen und im Nord-Atlantik zu virtuosen Violinen untergehen, als halb-intellektuelle, oberschlau zitierende, kitschige Glockengedichte zu veröffentlichen – bäh! Warum wir den Text doch bringen, liegt einzig und allein an der email unseres Dirk Dreifach aus Leipzig: „Ach, Leopardo G? Klar kenn ich den, kam mal zum Dichterkreis ins Goldfisch, da hieß er noch Leonardo, langweilte uns eine ganze Stunde mit ‚Collagenlyrik‘, legte sich mit dem Gastwirt an, kassierte ein paar Faustschläge, rappelte sich auf, zog eine Triangel aus der Tasche, >Pling< und sprach ‚Ab heute heiße ich Leopardo G‘. Respekt! Auch wenn die Texte stinken, solche Typen braucht das Land.“

 

  1. November 2020